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Design-Mix in der Medien-Gestaltung: Wie kam es zur Multistilistik?

Designpsychologie

Design-Mix in der Medien-Gestaltung: Wie kam es zur Multistilistik?

Im Rahmen unserer Serie zur Design-Psychologie hatten wir das Entstehen der Schriftsprache und den Iconic Turn als neue Bildorientierung behandelt. Im dritten Teil unserer Serie geht es um die heutige Vielfalt der Design-Stile und ihren Stil-Mix. Das hat zu einer Multistilistik geführt, bei der Stilelemente auch miteinander gemischt werden. Ist das Ausdruck gesellschaftlicher Individualität oder gibt es andere Gründe dafür?

In der neueren Geschichte des Grafik-Designs und der typografischen Gestaltung etwa ab dem 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Design-Stile – zunächst aber als Abfolge nacheinander und weniger nebeneinander. Heute gibt es einen großen Variantenreichtum unterschiedlichster Gestaltungsstile und ihrer Versatzstücke.

Viele Stile, viel Gestaltungsmöglichkeiten.

1. Grafik-Design aus dem Epochen-Archiv

Gestaltungsstile als design-historische Referenz

Ausgeprägte Stilistiken fallen weniger bei der Fernsehwerbung oder bei den Print-Anzeigen-Kampagnen großer Markenartikler auf und mehr bei der Kommunikation kleinerer Unternehmen oder Institutionen. Speziell auch bei zielgruppenorientierten Werbe- und Promotion-Aktionen, bei Events, im Kulturbereich und in den Segmenten

  • „Flyer“,
  • „Plakat“,
  • „Zeitschriftengestaltung“ und
  • „Buchcover“.

Besondere Relevanz für die Verschränkung von Grafik-Design-Stilen haben Branchen mit Jugendbezug, etwa im Mode- und Lifestyle-Bereich. Bei den Werbekunden mit hoher Reichweite schlagen sich solche Stilistiken oft in der Bebilderung der Drucksachen und Webseiten nieder. Etwa durch den Illustrationsstil oder wenn dort abgebildete Personen einen bestimmten Kleidungsstil pflegen – versehen mit entsprechenden Accessoires, die zur Jugendkultur passen. In diesem Fall ist die identifikationsstiftende Stilistik in der Bildmotivik enthalten.

Das Web als Medien-Design-Archiv

Dabei ist der Vorsprung, den das Web-Design mal vor dem Print-Design hatte, etwas dahingeschmolzen. Denn das Web-Design ist durch die Notwendigkeit vereinfachter mobiler Darstellungsweisen funktionaler geworden. Die schnelle Darstellung auf mobilen Endgeräten zeigt vielerorts standardisiertes Design. Hier spielen Darstellungsweisen wie Googles „AMP“ („Accelerated Mobile Pages“ = vereinfachte beschleunigte Webseiten-Darstellung) oder simple Reader-Darstellungen für Webseitentexte eine Rolle. Das Web als Speicher und Transportmedium von Design-Ideen bietet aber als visueller Tummelplatz wie bei TikTok oder als Archiv von Entwürfen etwa bei Flickr eine Übersicht über die unterschiedlichsten Stilistiken.

Design-Einflüsse aus anderen Zeiten und anderen Kulturen

Zusätzlich ist mancherorts ein Einfluss aus anderen Kulturen zu spüren. Das Design eines Landes wie Japan inspiriert auf zwei unterschiedliche Weisen:

  • Japan pflegt traditionell in seinem Design einen visuellen Minimalismus.
  • Modernes Design der japanischen Großstädte zelebriert Signalfarben und eine überbetonte, trashige Version von Pop-Art.

Das ist nur eines von vielen kulturellen Spannungsfeldern, die Wirkung entfalten. Von den geometrischen Mustern des Islam geprägte Stilelemente gehören beispielsweise ebenso dazu wie ein afrikanisch geprägtes Ethno-Design. Dabei dreht sich das Rad der Inspiration so schnell, dass viele Bezüge und Anklänge nicht rezipiert werden. Einiges in der Modefotografie, auf Musik-CD-Covern, Zeitschriften- oder Buchtiteln stellt Bezüge zu Design-Klassikern her.

Nachfolgend einige Beispiele geläufiger Design-Stile:

2. Beispiele für Design-Stile im Medien-Design

Design-Stile der Rationalität und Vereinfachung

Minimalistisches Design ist „reduktionistische Sachlichkeit“. Dabei wird nur das für den Ausdruck unbedingt Erforderliche eingesetzt. Der Designer stellt sich im Entwurfsprozess permanent die Frage: „Was kann ich weglassen?“ Die Aussagen „Weniger ist mehr“ oder „Form follows function“ kommen hier besonders zum Tragen.

  • Flat Design: Als Unterkategorie des Minimalismus wird hier bewusst zweidimensional, formal stark vereinfacht und mit einem reduzierten Farbkanon gearbeitet. Wichtig ist die klare Formensprache. Die Varianten des Flat Design hatten wir in einer Artikelserie behandelt: Folge1 l Folge 2 l Folge 3 l Folge 4
  • Geometrisches Design: Dominante Verwendung der einfachsten Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck sowie von Oval und Rechteck. Symmetrie spielt eine Rolle, ebenso der Einsatz von vertikalen und horizontalen Linien.
Design-Stile der Jugendkultur bzw. Jugendbewegungen

Ob K-Pop, Punk, Grunge oder Heavy Metal: Jede neue Musik-Lifestyle-Strömung oder Jugendkultur findet im Mediendesign ihren Ausdruck. Einerseits ist dies geprägt durch die Verwendung bestimmter Symbole und Motive. Andererseits vermittelt die Stilistik eine Atmosphäre, die mal poppig bunt ist, mal schwer und düster oder avantgardistisch. Die Jugendkulturen kommen und gehen. Auffällig ist aber, dass bestimmte Ausdrucksformen bestehen bleiben. Sie werden zu Elementen in einem ewigen Stilistik-Werkzeugkasten, aus dem sich viele Designer bedienen. Solche „Werkzeugkästen“ findet man nach wie vor in Form von Design-Büchern, Fachzeitschriften und Ausstellungen sowie auf Webseiten, in der Bildersuche einer Suchmaschine oder in Bilder- und Design-Sammlungen auf Pinterest. Solche Stile sind z.B.:

  • Steampunk-Design: Hier dominieren seit den 1980er-Jahren motivisch Maschinen und technisch anmutende Elemente, die eine Mischung zwischen Science-Fiction und der Retro-Anmutung des Mechanischen bilden. Dieser Stil ist in erster Linie ein Illustrationsstil, der mit Versatzstücken der viktorianischen Epoche (1837-1901) spielt und in die Gestaltung Ornamente integriert.
  • Techno-Design: Aus den 1980er- und 1990er-Jahren stammt „Techno“ als Elektronik-Tanzmusik. Es entwickelte sich daraus eine eigene Jugendkultur, deren Grafik-Design von poppig-bunt bis extrem chaotisch und überladen reichte. Zu Rave- oder Techno-Events sieht man immer noch Drucksachen mit entsprechendem Design. Stilbildend dafür war die Zeitschrift „Frontpage“ (1989-1997) mit ihrem Art Director Alexander Branczyk.
Design-Stile des Computer-Zeitalters

Grafik-Computer und ihre Software bringen bis heute neue Möglichkeiten für das Gestalten hervor. Vor allem hat sich das auf die Darstellungsweisen von Grafiken und Icons ausgewirkt und eine neue Ästhetik geprägt. Die beiden nachfolgenden Stile sind Illustrationsstile.

  • 3D-Design: Räumlichkeit, Schattenwurf, Spiegelung, Farbverlauf und Lichtwirkung werden hier meist auf eine Illustration oder ein Piktogramm angewendet, das so dreidimensional wirkt. Ursprünglich, war es ein Seherlebnis, den räumlichen Naturalismus nachzuahmen, was softwaregestützt vor den 1990er-Jahren kaum möglich war. Speziell für das Interface-Design bezüglich der App-Symbole auf Handys und Smartphones war dies angesagt. Dieses Nachempfinden naturalistischer Räumlichkeit wird „Skeuomorphismus“ genannt.
  • Low-Poly-Art: Ein Illustrationsstil, bei dem Polygone eingesetzt werden. Meist wird ein Foto illustrativ in Farbdreiecke aufgelöst und dadurch vereinfacht. Visuell wirkt das wie das flächige Drahtgitter-Modell eines 3D-Programmes: geometrisch, technoid, niedrigaufgelöst-vereinfacht, künstlerisch.
Design-Stile mit Bezug zu Design-Traditionen

Vintage- und Retro-Design: Diese Kategorie ist eine Sammel-Kategorie für unterschiedliche ältere Stile. Hier kommt es im Zusammenspiel von Gestaltung und Zielgruppe auf den anachronistischen Effekt an – also auf das im aktuellen Zusammenhang unerwartet Neue des alten Stils. Stilistiken können weit zurückreichen. Was als „retro“ oder „vintage“ empfunden wird, wechselt von Zeit zu Zeit. Es kann Anleihen bei Jugendstil (1890-1910) und Art Deco (1920-1940) geben, ebenso bei den pastellfarbenen Farbflächen oder Mustern der 1950er-Jahre-Rock’n’Roll-Ära oder beim bunten Psychedelic-Design der 1960er-Jahre. Entscheidend ist die im Verhältnis zum jeweiligen Status Quo klare Andersartigkeit des Visuellen. Diese Design-Auffassung kann je nach Einsatzzweck liebevoll ernst gemeint sein oder auch augenzwinkernd. Beliebte Referenz-Jahrzehnte sind die 1960er-Jahre, 1970er-Jahre und 1980er-Jahre.

Der Design-Stil als spezifische Ausdrucksform

Man sieht an den oben aufgeführten Beispielen bereits zwei Konstanten:

  • Individuelle Ausdrucksform: Neue Generationen kreieren einen eigenen Ausdruck, der zunächst aus einem Lebensgefühl kommt. Dieses Lebensgefühl hat als primäre Ausdrucksträger meist Musik und Mode.
  • Eigener Design-Stil: Untrennbar damit verbunden ist ein Design-Stil, der sich auch auf die Mediengestaltung und die Formensprache der Drucksachen auswirkt. Gerade bei Flyern und Plakaten im Eventbereich zeigt sich eine stilistische Vielfalt.

Die Funktionen solcher visuellen Ausdrucksformen sind Abgrenzung und Identitäts-Stiftung. Eine kulturelle Bewegung will mit nichts verwechselbar sein. Dem entsprechend entwickeln sich Stilistiken, die auf der Suche nach dem Neuen sind.

Wo in den Anfangstagen des modernen Grafik-Designs vieles noch nicht ausprobiert worden war und Formen und Stile erst erkundet werden mussten, mixt und vermischt man heute seine Inspirationsquellen. Manchmal kommt dabei eine Variante eines vorhandenen Stils heraus, manchmal gemäß des Collage-Prinzips etwas, das neu wirkt – selbst wenn es irgendwann schon einmal da war. So reichern sich im Laufe der Jahrzehnte die Ausdrucksformen an, während Design-Moden und Jugend-Kulturen kommen und gehen.

Visuelle Reize, die die Aufmerksamkeit aktivieren

Aber die „Individualität des Ausdrucks“ bezieht sich nicht nur auf eine bestimmte Generation sondern auf die ganze Gesellschaft. Eine informationsgesättigte Gesellschaft haushaltet jedoch mit ihrer Aufmerksamkeit – und eine beanspruchte Aufmerksamkeit verlangt nach neuen Reizen, um aktiviert werden zu können. Je mehr solcher aufmerksamkeitserregenden Reize es gibt, desto schneller dreht sich das Reiz-/Reaktions-Schwungrad der Wahrnehmung. So haben sich Design-Formen und -Stile schneller und in kürzeren Intervallen verändert.

Fünf psychologische Ansätze für das Gestalten.

3. Psychologische Mechanismen für den visuellen Ausdruck

Aus alt macht neu – Multistilistik und Design-Mix

Wer Design-Trends ausmachen will, steht heute vor einer Schwierigkeit, weil es lang andauernde, klare Trends nicht mehr gibt. Das liegt an der Schnelllebigkeit des Designs und auch daran, dass ständig alte Trends für die aktuelle Kommunikation recycelt werden. Diese Schnelllebigkeit ist dadurch bedingt, dass permanent Aufmerksamkeitswerte generiert werden müssen – sonst würde in einer Massenkommunikations-Gesellschaft vieles kaum noch wahrgenommen werden. Soviel Neues gibt es aber nicht. Deshalb werden alte Ideen neu aufbereitet.

Zwangsläufigkeiten der Aufmerksamkeits-Ökonomie

Man sieht dies nicht nur im Design, auch die Kunst oder die Populärmusik bereiten alte Ideen neu auf. Es geht nicht mehr nur um das wirklich Neue sondern um die neue Version von etwas. Deshalb haben wir es heutzutage mit einer Multistilistik zu tun, die darauf beruht, dass in einer Aufmerksamkeits-Ökonomie immer wieder neue Reize generiert werden müssen. Ein Mix neuer und alter Einflüsse hat psychologisch betrachtet mit linearer und intermittierender Verstärkung zu tun:

  • Linear: Gleichbleibende Impulse verlieren im Laufe der Zeit an Wirkung. Eine lineare Verstärkung setzt vorhersehbare Reize, die sich wegen ihrer Regelmäßigkeit leicht im informationellen Hintergrundrauschen verlieren können.
  • Intermittierend: Eine wechselnde Verstärkung etwa auf verschiedenen Kanälen zu verschiedenen Zeiten verankert Botschaften nachhaltiger und birgt den Reiz des Neuen. Da der Mediennutzer aber in seinen Rezeptions-Gewohnheiten auch immer mehr lernt und zum „Medien-Profi“ wird, wird es auch hier wichtiger, Aufmerksamkeit zu erregen.

Ein Unternehmen erfindet sich heutzutage visuell in kürzeren Intervallen als früher. Erscheinungsbilder wechseln, Logos werden stilistisch immer wieder an den Zeitgeist angepasst. Das ist als eine Strategie des Neuen eine intermittierende Herangehensweise.

Aufmerksamkeitsleistung und Konzentration

Die Auswirkungen des Lebens in der Reizüberflutung sind absehbar: die Gesellschaft wird aufmerksamkeitsschwächer. Stellt man sich die Aufmerksamkeit eines Menschen als eine gleichbleibende Größe vor, so mussten sich in der Vergangenheit vergleichsweise wenig Reize um diese Aufmerksamkeit bemühen. Heute teilt sich eine schwer überschaubare Anzahl an Reizen diese Aufmerksamkeit, was zu mangelnder Konzentration führt. Deshalb sind gemixte visuelle Reize neue Hingucker, die in Sekunden-Bruchteilen erfasst und bewertet werden – und so ihre Wirkung entfalten.

Das Bild als Aufmerksamkeits-Beschleuniger

Gemäß des Verhaltens- und Konsumentenforschers Werner Kroeber-Riel (*1934 †1995) dauert die Fixierung (=Fixation) eines gesehenen Bildinhaltes 200-400 Millisekunden, das heißt, sie ist 1/5 bis 2/5 Sekunden lang. Doch besteht die Arbeit der Augen in wesentlichen Teilen nicht aus der ruhigen Fixierung eines Motives, sondern aus ständigen Kleinst-Bewegungen, die in Kreis- oder Vor-und-Zurück-Intervallen durchgeführt werden und sowohl beim Lesen als auch bei der Bildbetrachtung stattfinden. Je nach Geschwindigkeit und Art werden diese Bewegungen „Drift“, „Sakkade“ oder „Tremor“ genannt und deuten nur im Ansatz die Vielfalt und Schnelligkeit der Augenbewegungen an. Ein Sakkade kann 30-90 Millisekunden dauern und ist damit ein Bruchteil so lang, wie die Fixation von bestimmten wichtigen Bildbereichen. Das Auge kann schon in extrem kurzen Zeitspannen etwas wahrnehmen und über dessen Relevanz entscheiden – Wahrnehmungs-Urteile fallen also schnell.

Die „7-38-55“-Regel: Wie man Aussagen auffasst

Auch der Amerikaner Albert Mehrabian (*1939) hat einen Beitrag dazu geleistet, wie Wahrnehmung funktioniert. Als Psychologe ist Albert Mehrabian bekannt für seine aus den 1960er-Jahren stammende „7-38-55-Regel“. Diese besagt bezogen auf die direkte Kommunikation mit einem Menschen, dass folgende Faktoren für Sympathie-Werte entscheidend sind:

  • zu 7% der Wortinhalt,
  • zu 38% wie die Worte ausgesprochen und betont werden und
  • zu 55% Mimik und Gestik.

Bei der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation genügt also die reine Information nicht. Sie würde nicht adäquat wahrgenommen werden, würde der Sprecher nicht z.B. als sympathisch eingeschätzt werden. Das lässt vermuten, dass auch Texte in einer Drucksache bezüglich ihres emotionalen Gehalts alleine nicht genügend wirken würden. Bildmotivik und Gestaltungsstil bilden den Kontext der Botschaft und sind entscheidend dafür, wie gut sie beim Absender ankommt. Der für die Zielgruppenansprache richtige visuelle Stil entscheidet deshalb mit darüber, ob eine Botschaft ankommt. Aber auch grundsätzlich werden visuelle Reize vor dem Lesen des Textes vom Menschen prioritär verarbeitet.

Dominanz von Sinneseindrücken

Für die Wahrnehmung medial vermittelter Inhalte sind drei Sinne entscheidend

  • Sehen als visuelle Wahrnehmung von Bildern und Text.
  • Hören als auditive Wahrnehmung von Musik und gesprochenen Texten in Videos, bei Hörbüchern oder Podcasts.
  • Tasten als taktile Wahrnehmung, die etwa bei Drucksachen die Beschaffenheit der Papier-Oberfläche betreffen kann, Drucklack- oder Folienveredelungen aber vor allem Prägungen, die sich erhaben vom Niveau der Papier-Oberfläche abheben.

Das Visuelle ist beim erwachsenen Menschen der primäre Sinn. Das ist entwicklungsgeschichtlich erklärbar, weil etwa bei Gefahr das Sehen die wichtigsten Informationen über die Beschaffenheit dieser Gefahr liefert. Aber auch etwa bei der räumlichen Orientierung inklusive der Selbstverortung und für die exakte Durchführung von Handlungen ist das Sehen entscheidend.

Sehen und Objektwahrnehmung

Der Begriff der „Objektwahrnehmung“ beschreibt hierbei, worum es beim Wahrnehmen geht: Dabei wird etwas gesehen, erkannt und bewertet. Letzteres bedeutet: Das neu Gesehene wird in Relation zu etwas bereits Bekanntem gesetzt. Tatsächlich funktioniert das Gehirn in Teilen wie eine Datenbank, wenn das gerade Gesehene mit etwas verglichen wird, das man bereits kennt oder gelernt hat – oder auch nicht. Entsprechend wird die Aufmerksamkeit entweder kaum oder erheblich aktiviert.

Das visuell Gewohnte fordert das Auge weniger heraus, kann aber einen Bekanntheits-Effekt nutzen, bei dem sich der Rezipient wohl fühlt, weil er sich mit der Bildwelt identifiziert.

Ein Beispiel: Natürlich erwartet man in einer Broschüre, durch die sich eine Pflegeeinrichtung darstellt, Bilder mit älteren Menschen. Ist die Fotoauswahl einfühlsam erfolgt, kann man sich mit den dort gezeigten Menschen identifizieren und wird in einem ersten Schritt unbewusst emotional für die Einrichtung eingenommen.

  • Zu klischeehafte Bilder, etwa weil die Abgebildeten wie Filmstars aussehen,
  • Bilder, auf denen Personen zu gebrechlich wirken oder zu jung sind, können diesen Identifikationsprozess behindern oder ganz verhindern.

Für andere werbliche Zwecke kann es entscheidend sein, den Betrachter herauszufordern. Seine Aufmerksamkeit wäre dann mit etwas zu reizen, dem er sich nicht entziehen kann. Schließlich wird sein Blick in einer visuellen Dramaturgie auf das Entscheidende gelenkt – etwa auf die Kontaktaufnahme oder eine exklusive Dienstleistung.

4. Fazit: Was tun mit dem Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten?

Die Reise des Designers vom Einfachen zum Komplexen

Die Gesellschaft wandelt sich von der Einfachheit zur Vielfalt. Es gibt mehr Medien, mehr Modemarken, mehr politische Parteien oder mehr Geschlechterrollen. Fast für jeden Gebrauchsgegenstand oder für jedes Lebensmittel gibt es zahlreiche Alternativen. Vielfalt ist mancherorts zu Unüberschaubarkeit und Orientierungslosigkeit geworden. Die Wahl zu haben, ist dennoch Teil des Selbstverständnisses unserer Individual-Kultur.

Die Parallelität des Ausdrucks als visuelles Potenzial

Dass viele Grafik-Design-Stile oder Medien-Design-Stile nebeneinander existieren, kann man als Bereicherung ansehen – wie eine Erweiterung des visuellen Vokabulars. Wo früher ein Stil relativ lange vorherrschte, erfolgt heute ein schnellerer stilistischer Wechsel. So entstehen gestalterische Variationen – und diese Varianten werden immer weiter variiert und mit anderen Stilelementen angereichert. Die Kopie von der Kopie der Kopie? Der Mix vom Mix des Mixes? Kann ein tradiertes Design alle seine Möglichkeiten irgendwann ausgereizt haben? Graduell ist das denkbar aber Design vollzieht sich in einem Bezugsrahmen. Entscheidend ist nicht, ob eine Stilistik schon einmal da war, sondern ob sie vor dem Hintergrundrauschen der Wahrnehmungs-Gewohnheiten neue Reize bringt und deshalb die Aufmerksamkeit weckt. Eine Chance für den zeitgemäßen Designer besteht also in der Kenntnis der Design-Historie.

Neu-Verortung des Designers

Die neue Vielfalt stellt höhere Anforderungen an den Designer. Vielleicht war es noch nie so herausfordernd wie heute, gestalterisches Neuland zu betreten und seine Position als Gestalter zu finden: Zwischen

  • eigenem Anspruch,
  • Briefing des Auftraggebers,
  • Erfordernissen der zu erreichenden Zielgruppe und
  • der Software, die ständig neue Möglichkeiten bietet.

Der Designer ist heutzutage nicht mehr nur Kreativer sondern auch ein Lotse im Dschungel der Ausdrucks-Formen. Denn der eine gute Entwurf, der ins Herz des Adressaten trifft, erscheint manchmal wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wo früher der Kern der Arbeit die Ideenentwicklung war, kann dieser heute durch die Ideen-Suche im endlos großen Archiv des Vorhandenen angereichert werden. Der intelligente Stil-Mix kann so das Neue bringen.