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Der Designer als visueller Geschichtenerzähler

Serie: Narratives Gestalten

Der Designer als visueller Geschichtenerzähler

Das in der Werbung so wichtige „Storytelling“, das Erzählen von Geschichten, ist nicht einfach Informationsvermittlung. Wer in eine Geschichte eintaucht und durch sie bewegt wird, ist für das Produkt gewonnen.

„Geschichtenerzählen“, „Storytelling“ oder „Narrative“ sind aber nicht nur das Metier von Textern, sondern ebenso von Designern, die Geschichten grafisch vermitteln. Denn der Mensch als „Augen-Mensch“ orientiert sich gerade bei schneller Kommunikation visuell. In unserer Serie wollen wir herausfinden, wie und warum Designer Narrative nutzen.

Erzählungen als Erinnerungsanker

Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler und hat auch als Konsument oder Rezipient etwa von Werbung oder Print-Produkten wie Flyern oder Informationsbroschüren eine Affinität zu Geschichten. Denn die sind unterhaltsam und vermitteln Inhalte, die man sich gut merken kann. Geschichten zu erzählen und mitgeteilt zu bekommen, ist eine kommunikative Grundlage, die auch ein Designer kennen sollte. Dabei gibt es Geschichten, die direkt als solche erkennbar sind, etwa in Form von Märchen oder Kurzgeschichten oder solche, die hintergründiger wirken, weil man sie nicht primär als „Geschichten“ betrachtet. Gerade große Erzählungen, die lange Zeit wie ein Mantra vertieft werden und dann unbewusst mitschwingen, werden „Narrative“ genannt. Wie grundlegend Narrative sein können, macht man sich oft nicht bewusst, obwohl Narrative alle Lebensbereiche durchdringen:

  • Religionen beinhalten Glaubensbekenntnisse und Schöpfungsgeschichten
  • Physiker übersetzen ihre mathematischen Berechnungen gekoppelt mit Erkenntnissen aus der Astronomie in Aussagen über die Beschaffenheit des Universums
  • Politiker entscheiden und handeln gemäß gesellschaftlich geformter Weltanschauungen
  • Wirtschaftswissenschaftler nutzen ökonomische Narrative für die Steuerung erfolgreicher Volkswirtschaften

Alle diese Disziplinen sind nicht nur von verbalen Aussagen begleitet, sondern immer auch von Bildwelten, die Ideologien bebildern: Ob Ikonen oder Jesus-Figuren in Kirchen, Sternenkarten oder Illustrationen des Allerkleinsten im atomaren oder quantenphysikalischen Bereich, ob Diagramme und Schaubilder aus Politik oder Wirtschaft – Visualisierungen begleiten gerade auch das, was sonst nicht einfach fassbar wäre und Klarheit erst durch die Darstellung bringt.

Bild-Narrative und Text-Narrative

Für all diese Fachdisziplinen gibt es Narrative in Text und Bild, die etwas erklären und veranschaulichen sollen, was der Laie sonst kaum verstehen könnte. Gerade für Bereiche wie die Politik oder die Wirtschaft ist die Königsdisziplin im Umgang mit den Medien, Narrative zu setzen. Das sind übergeordnete Erzählungen, die verstanden, verinnerlicht und weitergegeben werden. Eine Geschichte kann aber auch ohne Worte ein einzelnes Bild oder eine Bildabfolge erzählen. Bilder werden zielgruppengemäß codiert und werden von der Zielgruppe wieder decodiert, also entschlüsselt und verstanden. Wie gut dies funktioniert, zeigen bildorientierte soziale Medien wie „Instagram” genauso wie Event-Flyer, die die Insignien und Symbole jüngerer Zielgruppen bildhaft oder typografisch transportieren.

Was ist ein „Narrativ“?

Modebegriffe kommen und gehen. War vor einiger Zeit der Begriff „Storytelling“ in der Kommunikationsbranche en vogue, ist es jetzt der Begriff des „Narrativs“. Beide Begriffe heben darauf ab, dass simple Informations-Vermittlung nicht ausreicht. Der Begriff des „Geschichten-Erzählens“ klingt dem gegenüber etwas anachronistisch – so, als wollte man eine ausgedachte Geschichte mit keinerlei Bezug zur Wirklichkeit erzählen. Tatsächlich ist die Kunst des Narrativ-Setzens in Werbung und Kommunikation, eine fiktionale Geschichte zu ersinnen, die vom Rezipienten aber ihrem Gehalt nach als wahr empfunden wird. Die Gründe, warum dies geschehen kann, sind:

  • Identifikation – das Narrativ zeigt eine Figur, mit der man sich identifizieren kann
  • Wohlfühl-Effekt – das Narrativ bildet eine geläufige Lebenswirklichkeit ab
  • Vertrauen – das Narrativ ist glaubwürdig und authentisch
  • Klarheit – das Narrativ bringt in einer relativen Unübersichtlichkeit Orientierung, etwa indem es für Hindernisse oder Probleme einfache Lösungen anbietet
  • Relativierung – das Narrativ ist unterhaltsam und trifft, manchmal humoristisch, den richtigen Ton, indem es die anstrengende Wirklichkeit mit ihren unüberschaubaren Wahlmöglichkeiten nicht zu ernst nimmt und damit dem Empfinden eine Leichtigkeit verleiht

Die beste Voraussetzung für das Gelingen der Etablierung eines Narrativs ist die Wahl des richtigen Sprechers bzw. zielgruppengemäßer Medien. Dabei spielen visuelle Erscheinungsbilder eine große Rolle. Das können klassische Corporate Designs sein oder eigenständige Konzepte für Foto-Regie und Illustration.

Storytelling und Narrativ

Während also der Begriff des „Geschichtenerzählens“ nicht mehr zeitgemäß ist, wurde die literarische Kategorie „Erzählung“ aktualisiert und begrifflich aufs Marketing übertragen. „Storytelling“ ist ein verbales Update für das durchdachte Erzählen in Werbung und Kommunikation – und der nun gebräuchliche Begriff für den gleichen Sachverhalt lautet „Narrativ“ oder „Narration“. In der Literatur ist ein Narrator ein Erzähler, der zur Geschichte hinleitet oder sie begleitet. Er spannt erzählerisch einen Bogen. Der Begriff des „Narrativs“ ist aber aus der Philosophie und Soziologie entliehen, weil sich diese mit den großen Menschheits-Erzählungen befassen, die Gesellschaften prägen. Auch in der Psychologie wird das Narrativ verwendet, weil sich ein Individuum über die Geschichten definiert, die es über sich selbst erzählt. Dabei gilt ein Narrativ allgemein als eine sinn- und identitätsstiftende Erzählung im großen Maßstab. Dass Deutsche fleißig und ordentlich seien oder Italiener lebenslustig, sind nicht nur Klischees – diese können zu Selbstbild-Narrativen von Nationen werden, die wie Leitbilder funktionieren. Der Begriff des „Narrativs“ meint im allgemeinen Sprachgebrauch aber inzwischen nichts Anderes als eine übergeordnete Erzählung mit nachhaltiger Wirkung.

Narrative in der Medienwelt

Gerade wer medial kommuniziert, muss Narrative setzen. Das heißt, er versucht Geschichten zu etablierten, die glaubwürdig und folgerichtig wirken und Sichtweisen beeinflussen. Dies ist ein entscheidender Mechanismus in der Politik, der Werbung und allgemein dort, wo im größeren Maßstab überzeugt werden soll. Wer frühzeitig ein Narrativ lanciert, gibt damit die Richtung öffentlicher Diskussionen vor. Wer diese Inhalte zusätzlich mit Bildern koppeln kann, verfestigt seine Botschaft besonders dauerhaft im kollektiven Gedächtnis.

Narrative sind einerseits stabil und langlebig, andererseits einem Wandel unterworfen.

  • Beispiel Automobil-Industrie: Wenn etwa ein Automobilhersteller wie Mercedes einen Bogen von den ersten Automobilen bis zum heutigem E-Auto spannt, kommuniziert das Unternehmen nicht nur seine lange Tradition, sondern setzt zugleich ein Narrativ langanhaltender Beständigkeit oder immer neuer Innovationskraft – ein Beispiel für die Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit von Narrativen.
  • Beispiel Energieversorger: Wenn große Energie-Versorger darüber sprechen, dass sie bald nur noch CO2-neutral grünen Strom aus Sonnenenergie oder Windkraft produzieren, setzen sie ein Narrativ, dem in der Vergangenheit kaum Beachtung geschenkt wurde – ein Beispiel für einen narrativen Wandel.

Die Wahrnehmung-Leistung der Sinne

Dabei kommt der Wahrnehmung der unterschiedlichen Reize über die Sinne eine besondere Bedeutung zu. Gerade mal

  • 10% vom Gelesenen behalten wir überhaupt,
  • 20% von Gehörten
  • 30% vom Gesehenen. Damit ist der Sehsinn überlegen und es nimmt nicht Wunder, dass Bilder so gut funktionieren.
  • 50% vom gleichzeitig Gesehenen und Gehörten werden behalten, was den Siegeszug der audiovisuellen Medien erklärt.
  • an 90% von dem, was wir fühlen, erinnern wir uns. Jenseits der Leistung der einzelnen Sinne ist das Fühlen und Empfinden der reinen Wahrnehmungsleistung haushoch überlegen.

Fazit: Narrative evozieren Gefühle

Die Aktivierung von Gefühlen ist eine wesentliche Erklärung für den Siegeszug von Narrativen. Man kann sich auch deshalb schlecht an eine Fülle von Einzelinformationen etwa über ein Auto erinnern, das man erwerben möchte, wenn man keine Gefühle damit verbindet. Denn rein technische Informationen oder Produktinformationen lösen in ihrer Gesamtheit kaum etwas Affektives wie Freude aus. Wohl aber kann man sich gut an die Sommer-Probefahrt im Cabrio erinnern, an den Fahrtwind, das Lachen… weil man emotional etwas damit verbindet. Die Kopplung von zielgruppengerechten, authentischen und lebensnahen Bildern mit Gefühlen ist der Weg des visuellen Narrativs. Ein solches Narrativ aktiviert einerseits schneller als das Wort und bleibt andererseits lange in Erinnerung.

Beispielsweise kann man viele Worte über die Strapazen von Flüchtlingen in Kriegsgebieten schreiben, mit dem Ziel, etwa Spenden für Medikamente oder Lebensmittel zu sammeln. Doch dann genügt nur ein einziges medial weit verbreitetes Foto, das das Leid eines Kindes anschaulich zeigt: Die Spenden fließen plötzlich, weil dieses Bild anschaulich ist und mehr aussagt als die genannten Worte. Der visuelle Eindruck emotionalisiert augenblicklich und ist authentischer als die verbale Beschreibung. Hier werden der Art-Director, der Medien-Designer, der Fotograf oder Illustrator zu visuellen Geschichtenerzählern.

Ausblick: Da Narrative auch Unternehmens-Identitäten beeinflussen, formen und auf den Punkt bringen, geht es in unserer nächsten Folge der Reihe „Narratives Gestalten“ um das „Narrativ als Mittel der Image-Ausformung.“